Es wird Zeit

Rolf Lührs
4 min readFeb 4, 2021

Die Infrastrukturen von morgen müssen heute geplant und genehmigt werden. In dem erforderlichen Tempo schafft das nur eine digital transformierte Gesellschaft.

Die Geschwindigkeit, in der sich Dinge verändern, hat einen großen Einfluss darauf, wie grundlegend oder radikal ein Wandel erscheint. Die digitale Transformation, deren Zeuge wir gerade alle sind, wirkt auch aufgrund ihres hohen Tempos deshalb fast wie eine Revolution. Nicht nur, dass sich die Technologieentwicklung ständig weiter zu beschleunigen scheint — kaum ein gesellschaftlicher Bereich der sich aufgrund von Digitalisierung nicht grundlegend verändert und so wiederum Teil der sich selbst beschleunigenden Wandels wird.

Die Welt hat sich gewissermaßen im digitalen Raum verdoppelt, weshalb man ja auch — bspw. bei einer Modellierung von Gebäuden — von digitalen Zwillingen spricht. Viele Prozesse könnten jetzt im digitalen Double beobachtet, erprobt, geplant oder gesteuert werden. Nicht aber: gebaut.

Ausbau der Hochspannungsleitungen: 500 km in 12 Jahren

Die gebaute Umwelt scheint der flirrigen Digitalität scheinbar einen betonschweren Bremsklotz entgegenzusetzen. Nicht nur, dass sich die Bautätigkeit in den letzten Jahrzehnten kaum beschleunigt hat, teilweise könnte der Eindruck entstehen, dass sie — im Gegenteil — noch langsamer geworden ist.

So ist es im Berlin der 1920er Jahre gelungen, die elektrischen Versorgungsleitungen in nur acht Jahren um 12000 Km zu erweitern. Davon können wir heute nur träumen. Bereits 2009 wurde ein Ausbaubedarf bei den Übertragungsnetzen von etwa 5000 Kilometern Länge festgestellt und seither an deren Realisierung gearbeitet. 12 Jahre später sind erst knapp 500 km neuer Leitungen im Betrieb. Ohne leistungsfähige Übertragungsnetze aber wird Deutschland die gegenwärtigen und künftigen Klimaziele kaum erreichen können.

Gleichzeitig will es den deutschen Großstädten nicht gelingen, genügend bezahlbaren Wohnraum für die vielen Menschen zu schaffen, die dort jetzt nach einer Bleibe suchen oder zukünftig gerne dort leben möchten. Am besten sieht es noch in der zweitgrößten Stadt in Deutschland aus, in Hamburg, die immerhin 86% des benötigten Wohnraums baut (IW-Report 28/ 2019). In Berlin dagegen werden nur 73% des Bedarfs realisiert. Kein Wunder: Hier dauert allein die Feststellung eines Bebauungsplanes — ein gültiger B-Plan ist die Voraussetzung für die Beantragung einer Baugenehmigung — durchschnittlich länger als sieben Jahre.

Beteiligung einschränken, um Planung zu beschleunigen?

Könnte es also sein, dass es gar nicht die Errichtung von Bauwerken ist, die sich jeder Beschleunigung verweigert, sondern in Wahrheit deren Planung und Genehmigung? Ein Blick auf andere Erdteile erhärtet diesen Verdacht. So ist in China zwischen 2011 und 2013 mehr Beton verbaut worden, als in den USA im gesamten 20. Jahrhundert. Man muss sich klar machen, dass in dieser Zeit die meisten amerikanischen Highways, Wolkenkratzer und Industriegebäude entstanden sind.

Im Gegensatz zu China gibt es in Deutschland nun ungleich mehr Bauvorschriften zum Schutz von Mensch und Umwelt. Und seit der Aarhus-Konvention und den EU-Richtlinien zur Umweltinformation und Öffentlichkeitsbeteiligung ein gesetzlich garantiertes Recht für die Bürger*innen, im Genehmigungsprozess mögliche Einwendungen gegen ein umweltrelevantes Bauprojekt vorbringen zu können.

Dies alles sind demokratische Errungenschaften. Die Forderung, die Beteiligungsmöglichkeiten einzuschränken, um schneller bauen zu können, schwächt gerade das Beste, was das europäische Gesellschaftsmodell totalitären Staaten entgegenzusetzen hat.

Allerdings werden intelligentere Instrumente benötigt, um die vielen Einwendungen und Stellungnahmen für bzw. gegen Bauprojekte auswerten, beurteilen und beantworten zu können. Bei vielen umstrittenen Infrastrukturprojekten gehen die Einspruchszahlen in den fünf- oder sechsstelligen Bereich. Mit Tabellenkalkulations- und Textverarbeitungsprogrammen ist diese Aufgabe kaum zu bewältigen. Moderne Verfahren, die für diesen Zweck digitale Sprachmodelle und maschinelles Lernen nutzen, sind dagegen leider eher die Ausnahme.

Nicht Datenschutz ist das Problem, sondern Datensparsamkeit

Das gilt auch für die gesamte Stadt- und Raumplanung, die noch weitgehend analog abläuft. Wo könnten mit dem besten Kosten-Nutzen-Verhältnis Wohnungen gebaut und gleichzeitig die Lebensqualität in unseren Städten erhöht werden? Dass Antworten auf solche Fragen nicht unbedingt von Stadt*planerinnen erwartet werden können, die sich gemeinsam über einen ausgeplotteten A0-Plan beugen, sondern eher auf Basis intelligenter Simulationen, erscheint nicht ganz abwegig.

Aber das scheitert meist schon an den Daten. Die geschätzt 500.000 geltenden Bebauungs- und Flächennutzungspläne liegen in Deutschland weit überwiegend nicht in maschinenlesbarer Form vor, sondern als PDF-Bilddateien. Die in diesem Datenschatz verborgenen Informationen können dementsprechend auch nicht genutzt werden. Weder für stadtplanerische Aufgaben noch für die Regionalentwicklung. Auch können die Städte und Gemeinden nicht voneinander lernen. Wie beispielsweise die neuen Möglichkeiten zur Ausweisung von urbanen Gebieten, in denen Gewerbe und Wohnen integriert werden können, in den verschiedenen Städten in gültiges Planrecht umgesetzt worden sind, werden so bestenfalls künftige Studien zeigen.

Bedauerlich ist auch, dass diese Daten so nicht für das Training von Machine Learning-Verfahren genutzt werden können. Die DSGVO schränkt aus guten Gründen die Nutzung personenbezogener Daten für diese Zwecke in Europa sehr stark ein. Was raumplanerische Daten anbelangt, ist das Prinzip der Datensparsamkeit aber keine Tugend, sondern eine ungenutzte Chance. Gerade diese Daten werden in totalitären und illiberalen Systemen vor der Öffentlichkeit verborgen. Deutschland verfügt wohl weltweit über eines der am weitesten entwickelten administrativen Raum- und Stadtplanungsverfahren und einen entsprechenden Datenreichtum. Diesen zu nutzen, würde die Transparenz erhöhen und gleichzeitig schnellere Planung ermöglichen.

Staat und Wirtschaft sind beim Infrastrukturbau voneinander abhängig

In kaum einem anderen Bereich sind Staat und Privatwirtschaft derart eng miteinander verschränkt wie im Bereich Planen und Bauen. Der Staat gibt die Rahmenbedingungen vor und ist für die Genehmigungsverfahren zuständig, die durchlaufen werden müssen, bevor irgendwo die Bagger anrollen dürfen. Und dass gebaut wird, ist wichtiger als jemals zuvor.

So beziffert der von der Heinrich Böll Stiftung herausgegebene Infrastrukturatlas 2020 den Investitionsrückstand allein im kommunalen Bereich auf 147 Mrd. Euro. Diese Investitionen entscheiden mit darüber, wie sich Deutschland im internationalen Wettbewerb behaupten kann. Auch der Klimawandel wird ohne neue Bauvorhaben weder gebremst werden, noch können wir uns an dessen Folgen anpassen. Und ohne neue städtische Infrastrukturen wird sich die Wohnungsnot in unseren Städten dramatisch verschärfen.

Die Digitalisierung der Stadt- und Raumplanung, von der Daten basierten Planung über elektronische Antrags- und Genehmigungsverfahren bis zur KI-unterstützten Auswertung von Einwendungen und Stellungnahmen sollte daher politische Priorität haben. Noch ist es nicht zu spät — aber es wird höchste Zeit.

--

--

Rolf Lührs

Gründer und Geschäftsführer der DEMOS E-Partizipation GmbH. Beschäftige mich seit zwanzig Jahren mit Partizipation, Raumplanung und Digitalisierung.